Zehn Jahre Exzellenzcluster Hearing4all

Internationales Symposium gibt Einblick in die Forschungsergebnisse

Seit Jahrzehnten wird in Oldenburg und in Hannover auf höchstem Niveau Forschung betrieben, um das Leben von Menschen mit Hörbeeinträchtigungen nachhaltig zu verbessern. Genau zehn Jahre geschieht dies nun gemeinsam im Exzellenzcluster Hearing4all. Der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte interdisziplinäre Forschungsverbund unter Federführung der Universität Oldenburg arbeitet mit Hochdruck an klinischen und praktischen Problemen rund ums Hören.

Das diesjährige internationale Symposium unter dem Titel „The Future of Hearing“ fand vom 03. bis 04. November an der Medizinischen Hochschule Hannover statt und bot spannende Einblicke in die Forschungsergebnisse von Hearing4all.

Internationale Gäste bereicherten das Programm und gaben Einblicke in Forschungsarbeiten über den Exzellenzcluster hinaus. In einem Keynote Talk gab Prof. Alessia Paglialonga vom National Research Council of Italy einen Einblick in ihre Forschung zum Hörscreening bei Erwachsenen. Sie registriert weltweit eine steigende Anzahl von Entwicklungen selbst durchführbarer Hörscreening-Tests. Dabei gibt es eine Tendenz zu multivariaten Ansätzen, die auch den allgemeinen Gesundheitszustand oder sogar demographische und sozioökonomische Faktoren einbeziehen. In Kombination mit dem Einsatz von Algorithmen des maschinellen Lernens können diese Ansätze dazu beitragen, genaue Methoden zur Vorhersage des Risikos der Entwicklung von Hörverlusten zu entwickeln, erläuterte Prof. Alessia Paglialonga. Sie war eine von fünf Frauen unter den acht Keynote-Vortragenden des Symposiums. „Unser internationales Keynote-Panel zeigt die ganze Bandbreite der Hörforschung von der Neurophysiologie über die  Hörmodellierung bis hin zur klinischen Anwendung auf“, stellt Prof. Dr. Dr. Birger Kollmeier, Medizinphysiker an der Universität Oldenburg und Sprecher des Exzellenzclusters, fest. „Der besonders hohe Frauenanteil war ein wichtiger Impuls für das Symposium. Zusammen mit den vielen starken Entwicklungen aus dem Cluster  und den hier stattgefundenen Diskussionen weist es uns den Weg in die Zukunft unserer Forschung“.

Die Forschenden des Exzellenzclusters Hearing4all berichteten in Highlight Talks über aktuelle Ergebnisse der vier Forschungslinien. Besonders heraus stachen dabei die Virtual Hearing Clinic, die Ansätze zum Deep Learning und die Fortschritte bei Verringerung von Traumata beim Einsetzen von Cochlea-Implantat-Elektroden.

Digitale Lösungen für reale Behandlungserfolge

Dr. Lena Schell-Majoor von der Universität Oldenburg berichtete über ein Schlüsselkonzept von Hearing4all – die Virtual Hearing Clinic. Weltweit betrachtet hat nur ein Bruchteil aller Menschen Zugang zu einer guten Diagnostik und modernen Hörsystemen. Hearing4all hat sich deshalb das Ziel gesetzt, Prozesse und Methoden zu digitalisieren und so mit der „Virtual Hearing Clinic“ die Versorgung über Grenzen hinweg zu verbessern. Dafür werden verschiedene, im Exzellenzcluster entwickelte Module in eine App zusammengeführt. So wird eine niedrigschwellige Diagnostik und Hörunterstützung über mobile Endgeräte ermöglicht und die Barriere für jeden Einzelnen verringert, ihr Gehör zu testen und Informationen über mögliche Behandlungen und deren potenzielle Ergebnisse zu erhalten.

Die derzeitigen Arbeiten betreffen die Anpassung und Validierung von Testverfahren und Schnittstellen für die Verwendung auf mobilen Geräten, die Kalibrierung der einzelnen Geräte, die psychologische und audiologische Profilierung sowie die Definition und Einrichtung der technischen Infrastruktur.

Ziel sind die Selbstdurchführung von Hörtests, die Prognose des Behandlungserfolgs für technische Hörhilfen (z.B. Hörgeräte oder Cochlea Implantate), die Hörgerätesimulation und schlussendlich eine Behandlungsempfehlung auf Basis einer audiologischen Einstufung. Mit einem ersten Smartphone-basierten Demonstrator sind die Hörschwelle, Lautheitswahrnehmung und Sprachverständlichkeit messbar. Weitere Komponenten der Virtuellen Hörklinik werden kontinuierlich entwickelt und in die Plattform für mobile Geräte integriert.

Künstliche Intelligenz für die Hörsysteme der Zukunft

Neueste Forschungsergebnisse zur Nutzung von Deep-Learning-basierten Methoden zur Sprachquellenerkennung und -lokalisierung in Hörgeräten stellte Dr. Peyman Goli von der Universität Oldenburg vor. Deep Learning bezeichnet eine spezielle Methode der Informationsverarbeitung. Im Gegensatz zum maschinellen Lernen muss kein Programmierer eingreifen, um Anpassungen vorzunehmen. Beim Deep Learning bestimmen die Algorithmen selbst, ob ihre Entscheidungen richtig oder falsch sind. Diese Technologien sind in vielen Bereichen von großem Nutzen, und sie sollen auch in Hörsystemen eingesetzt werden, um selbstlernende Algorithmen zur Sprachquellenerkennung und -lokalisierung zu liefern. Solche Algorithmen können für die Steuerung von Beamformer-Algorithmen in Hörsystemen eingesetzt werden, um die Zielsprache von den Störquellen zu unterscheiden und zu verstärken. Eine im Exzellencluster erforschte Methode verwendet entweder ein binaurales (d.h. auf beide Ohren verteiltes) oder nur ein monaurales, einseitiges Mikrofonarray eines Hörgeräts. In Anlehnung an das menschliche Gehör wird eine periphere Vorverarbeitung der Mikrofonsignale vorgenommen, um auditive Teilbandsignale zu erhalten, die als Eingabe für ein Modell dienen, das zur Erkennung und Lokalisierung von Sprachquellen trainiert wird. Diese Methode zeigt eine bessere Leistung im Vergleich zu mehreren anderen.

Mehr Sicherheit bei Cochlea Implantationen

Der Preis für den besten Vortrag eines Nachwuchswissenschaftlers ging an Georg Böttcher-Rebmann von der Medizinischen Hochschule Hannover. Er berichtete über die Fortschritte, die in seiner Arbeitsgruppe an der Medizinischen Hochschule Hannover erzielt wurden, um das Auftreten von Traumata beim Einsetzen von Cochlea-Implantat-Elektroden zu verringern, was für den Erhalt des Restgehörs der Patienten sehr wichtig ist. Der erste Schritt war die Entwicklung eines chirurgischen Werkzeugs, das die Messung der Einführungskräfte während einer konventionellen CI-Operation ermöglicht. In einem zweiten Schritt wurden Konzepte entwickelt, die dem Chirurgen ein Feedback durch intraoperative Kraftvisualisierung geben. Der Ansatz erwies sich bei Test-CI-Insertionen in menschlichen Präparaten als erfolgreich. Das Zulassungsverfahren für den In-vivo-Einsatz der neuen Technologie wurde eingeleitet.

Die aktuelle Förderperiode des Exzellenzclusters Hearing4all läuft noch bis 2025. Bis dahin werden sicherlich noch viele weitere Meilensteine erreicht werden, um das Leben von Menschen mit Hörbeeinträchtigungen nachhaltig zu verbessern. Einige davon werden auf dem nächsten Symposium im November 2023 in Oldenburg präsentiert werden.

Details zu weiteren Vorträgen finden Sie im Abstractbook.